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Walter Motorrad-Technik

S p e i c h e n r ä d e r

Vorwort

Das Speichenrad, in fast allen klassischen Motorrädern, Enduros, Supermotos, Custom-Bikes und Geländemotorrädern zu finden, ist eines der am meisten vernachlässigten Bauteile des Motorrades. Wenn überhaupt wird nur auf die Optik, sprich den Zustand der Oberfläche, und den Rundlauf geachtet. Dabei trägt das Speichenrad ganz wesentlich zur Fahrsicherheit und einem stabilen Fahrverhalten bei. Diese Aufgabe kann das Speichenrad jedoch nur dann erfüllen, wenn alle Parameter innerhalb enger Grenzen eingehalten werden. Viele Versuche, das Fahrwerk durch Umbaumaßnahmen zu verbessern, haben deshalb keinen Erfolg, weil die Räder alle Verbesserungen wieder zu Nichte machen.

Hier möchten ich Ihnen nun die Wirkungsweise der einzelnen Komponenten und das Prinzip des Zusammenwirkens der Bauteilen näher bringen.

 

Geschichte

Bereits im alten Ägypten, also vor mehr als 3000 Jahren, kannte man Speichenräder. Sie lösten nach und nach die Scheibenräder ab. Die Konstruktion dieser ersten Speichenräder war so ausgelegt, daß, im Gegensatz zu modernen Rädern, die verwendeten Speichen auf Druck belastet wurden. Das hatte zur Folge, daß die verwendeten Speichen sehr dick und druckstabil ausgelegt sein mußten. Diese Grundidee findet sich heute in den Gußrädern wieder. Auch die ersten Speichenradkonstruktionen für Fahrräder beruhten auf dem Prinzip der Druckbelastung. Erst mit Einführung der Tangetialspeichung, gegen Ende des 19. Jahrhunderts, konnten die Speichenräder leichter und filigraner ausgeführt werden. Bei der Tangetialspeichung werden die Speichen nicht auf Druck sondern auf Zug belastet. Da Stahl sehr viel zugstabiler als druckstabil ist, konnten ab jetzt sehr viel leichtere und stabilere Räder entworfen werden. Das Grundprinzip des Speichenrades hat sich seit Erfindung der Tangetialspeichung nicht mehr verändert.

Die gesamte Stabilität des tangential gespeichten Laufrades beruht auf der exakten Vorspannung der Speichen!

Aus diesem Grund ist ein 100%ig gefertigtes Laufrad Grundvoraussetzung für ein stabiles und sicheres Fahrverhalten während aller Betriebszustände.

 

Wirkungsweise der Vorspannung

Auf den ersten Blick wirkt ein Speichenlaufrad, bestehend aus Nabe, Speichen, Felge und Reifen, eher wie ein einfaches mechanisches Gebilde. Das eigentliche Geheimnis des Speichenrades verbirgt sich hinter den nicht sichtbaren, inneren Kräften die in einem Laufrad wirken. Diesem Geheimnis kommt man nur dann auf die Spur, wenn man sich mit den Kräften anhand von Rechnungen und konkreten Zahlenwerten nähert. Bei diesen theoretischen Betrachtungen bekommt man schnell ein Gefühl dafür, daß ein Speichenrad trotz der einfachen Konstruktion, ein sehr komplexes und damit empfindliches Bauteil ist.

Hinweis: die in den folgenden Berechnungen verwendete Maßeinheiten N (Newton) entspicht etwa 0,1kp (Kilopond)

Wie bereits beschrieben werden in modernen Speichenrädern die Speichen überwiegend auf Zug und nicht auf Druck beansprucht. Bereits bei einer Kraft von 20-40 N knickt eine Speiche ein, wenn sie auf Druck belastet wird. Wird die gleiche Speiche aber auf Zug belastet, ist die Belastbarkeit, je nach Speichenform, um den Faktor 100-200 höher, bevor die Speiche zerstört wird. Das Geniale an der Speichenradkonstruktion ist es nun, die im Fahrbetrieb einwirkenden Druckbelastungen auf das Rad in Zugbelastungen für die Speichen zu konvertieren. Um die Belastungen zu verdeutlichen sei hier erwähnt, daß im normalen Betrieb bis zu 3000 N Druckbelastung, im Extremfall auch deutlich mehr, auf ein Laufrad einwirken. Diese Belastung kann ein Speichenrad nur dadurch überstehen, da die einzelnen Speichen mit einer genau definierten Spannung vorgespannt sind. Diese Vorspannung wirkt nun als Zugkraft auf die Felge und die Nabe. Da in einem idealen Rad alle Speichen mit der selben Kraft ziehen, herrscht in der Gesamtkonstruktion ein Gleichgewicht und das Rad läuft, vorausgesetzt es ist richtig zentriert, exakt rund und gleichmäßig. Bei einer Druckbelastung im Bereich der Aufstandsfläche werden die Speichen in diesem Bereich anteilig um die Druckbelastung entlastet, soll heißen die Zugbelastung wird um den entsprechenden Betrag reduziert. Diese Differenz wird als zusätzliche Zugkraft auf alle restlichen Speichen verteilt.

Ein Rechenbeispiel verdeutlicht die Relationen.
Im Kontaktbereich des Rades werden etwa 4 Speichen mit der entsprechenden Druckbelastung entlastet. Konkret bedeutete dies, daß jede der vier Speichen um ca. 2000/4N = 500N entlastet wird (idealisiert). Bei einer Vorspannung von 2000N verbleibt einen Restzugbelastung von 1500N pro Speiche. Im Umkehrschluß wird diese Kraft als zusätzliche Zugkraft auf die restlichen Speichen verteilt. Bei einem Rad mit 40 Speichen bedeutet dies, das jede der 36 Speichen, die keiner Druckbelastung ausgesetzt sind, mit 2000/36N = 56N Zugbelastung extra beaufschlagt wird. Mit Blick auf die mögliche maximale Zugbelastung ein zu vernachlässigender Wert, auch wenn die Belastung nicht symetrisch auf alle Speichen verteilt wird.

Bei stärkerer Belastung (heftiger Stoß auf die Felge) kann im Extremfall auch die fünf,- bis sechsfache Druckbelastung entstehen. In einem solchen Fall flacht die elastische Felge im Bereich der Aufstandfläche stärker ab, so daß der Druck auf 6 bis 7 Speiche verteilt wird. Die Rechnung sieht dann wir folgt aus:
12000/6N = 2000N Zugentlastung für die Speichen im Druckbereich. Somit ergeben sich etwa neutrale Kräfte an den Speichen bei 2000N Vorspannung. Die 34 restlichen Speichen werden mit 12000/34N = 353N zusätzlichem Zug belastet. Auch hier übersteht das Speichenrad die Belastung ohne Schäden. Für zusätzliche Entlastung sorgt das Eigendämpfverhalten des Reifens, der die einwirkenden Kräfte dämpft.
Diese Rechnung berücksichtigt jedoch nicht das dynamische Verhalten des Laufrades. Die Kräfte verteilen sich nicht gleichmäßig sondern einige Speichen, z.B. im Randbereich der Aufstandfläche werden stärker beansprucht als die restlichen. Nichtsdestotrotz wird an diesen Rechnungen deutlich, welche Kräfte und vor allen Dingen in welcher Größenordnung Kräfte im Speichenrad wirken.
In unserem Beispiel sind wir von einer Vorspannung von 2000N ausgegangen. Für jede einzelne Speiche ist dies schon ein recht hoher Wert. Multipliziert man diesen Wert jedoch mit der Anzahl der Speichen, in unserem Fall 40, ergibt sich ein Gesamtwert von 80.000N, sprich 8 Tonnen, mit der die Speichen im Ruhezustand an Felge und Nabe zerren. Damit wird wohl deutlich, welchen Einfluß eine korrekte Spannung der Speichen auf die Funktion des Speichenrades hat und welche Folgen eine falsche Spannung der Speichen haben kann. Jeder kann die oben gemachten Rechnungen im Vergleich mit nur halber Sollspannung und doppelter Vorspannung durchführen und mit den zulässigen Maximalwerten vergleichen. Das Ergebnis wird Sie überraschen.

 

Seitenstabilität und Steifigkeit

Bisher haben wir uns mit den Kräften befaßt, die senkrecht auf das Rad einwirken. Zusätzlich kommen noch Seitenkräfte auf das Laufrad zu. Diese Kräfte können abgefangen werden, da die Speichen nicht auf einer Rotationsebene sondern links und rechts seitliche versetzt sind. Somit wirken Zugkräfte zu beiden Seiten auf die Felge. Im Idealfall sind die Zugkräfte gleich und heben sich im Ruhezustand gegenseitig auf. Je nach Winkel der Speiche teilt sich die Vorspannung in eine horizontale und eine vertikale Kraft. Je größer der Anstellwinkel der Speiche, desto höher ist der Anteil der horizontalen Kraft. Bei Vorderrädern beträgt der Speichenwinkel . 4-6 Grad. Bei asymetrisch eingespeichten Hinterrädern zwischen 3-4 Grad auf der einen und bis zu 8 Grad auf der anderen Seite. Die für die Seitenstabilität verantwortliche Horizontalkraft errechnet sich wie folgt:

h=Fsp x sin (a)

wobei gilt:
Fh = horizontaler Anteil der Speichenspannung in N
Fsp = Speichenspannung in N
sin a = Winkel in Grad in dem die Speichen von der Felge zur Nabe verlaufen
Für unser Beispiel soll wieder eine Vorspannung von 2000N gelten und der Speichenwinkel wird mit 7 Grad angenommen.

Die entsprechende Rechnung lautet
Fh = 2000N x sin (7) = 2000N x 0,1219 = 244N

Das bedeutet, daß jede Speiche die Felge mit einer Kraft von 244N nach rechts bzw. nach links zieht. In Summe entstehen also statische Horizontalkräfte von 4880N (20 Speichen á 244N) zu jeder Seite. In diesem Idealzustand heben sich die Kräfte auf. Jedes Ungleichgewicht in der Speichenspannung stört diese Kräftesymetrie.

 

Störungen des Kräftegleichgewichts

Wird das oben aufgezeichnete Gleichgewicht der Kräfte gestört, ändern sich die Verhältnisse und Kräfteverteilungen im Speichenrad dramatisch. Ursache für eine solche Störung kann ein Speichenbruch aber auch ungleichmäßige oder falsche Speichenvorspanung sein.

Nehmen wir als Beispiel eine gebrochen Speiche an. In diesem Fall ziehen die der fehlenden Speiche gegenüberliegenden Speichen nun in der Überzahl. Die Felge bekommt durch die fehlende Zugkraft an der Fehlstelle einen Höhenschlag. Die Zugkräfte sind ungleichmäßig verteilt. Auf der anderen Seite verteilen sich die Kräfte so, daß die Zugspannung der Speichen neben der fehlenden Speiche verstärkt wird und die Spannung der gegenüberliegenden Speichen abnimmt. Durch den erhöhten Zug der benachbarten Speichen, die Beide in die selbe horizontale Richtung ziehen, entsteht an dieser Stelle ebenfalls ein Ungleichgewicht. Es entsteht an der Fehlstelle ein Seitenschlag.

Die Auswirkung von unzureichend bzw. ungleichmäßig gespannten Speichen ist vergleichbar.

Was mit einem solchen Rad bei starker Beanspruchung passiert kann man sich etwa vorstellen. Auf weitere Berechnungen möchte ich an dieser Stelle aber verzichten.
Eine weitere Störung des Kräftegleichgewichts liegt in der Konstruktion vieler Hinterräder. Die Speichen sind hier häufig auf der linken und rechten Seite unterschiedlich lang. Dadurch ergeben sich auch unterschiedliche Anstellwinkel der Speichen. Als Folge muß die Vorspannung entsprechend angepaßt werden, so daß trotz unterschiedlicher Anstellwinkel die horizontale Zugkraft der Speichen auf der rechten und linken Seite gleich bleibt. Zusätzlich kann die Felge außermittig eingespeicht sein, um die Unterschiede der Anstellwinkel zu reduzieren.

Des Weiteren sind natürlich die dynamischen Einflüsse während der Fahrt zu berücksichtigen. Zum Einen entstehen beim Bremsen und Beschleunigen zusätzliche Zug,- und Druckkräfte. Bei diesen Kräften kommt für das Speichenrad erschwerend hinzu, das nicht alle Speichen die auftretende Last tragen. Im Laufrad gibt es so genannte Zugspeichen. Je nach Drehrichtung des Rades und der einwirkenden Kraft (Bremsen/Beschleunigen) wird nur die Häfte der Speichen beansprucht. Bei einseitiger Belastung wie z.B. bei nur einer Bremsscheibe oder am Kettenrad, verteilt sich die Kraft nochmals unsymetrisch auf die verbleibenden 20 Zugspeichen, und dies teilweise im Verhältnis 90/10. Daran sieht man, daß einzelne Speichen im Fahrbetrieb deutlich höheren Belastungen ausgesetzt sind, als wir es in den Rechnungen zur statischen Kraftverteilung ermittelt haben. Diese Kräfte sind abhängig von Größe/Gewicht und Leistung des Motorrads.

Als weitere dynamische Größe ist die Kurvenfahrt anzusehen. Auch hier werden die Zug,- und Druckverhältnisse im Speichenrad beeinflußt und es kommt zu unsymetrischen Belastungen im Speichenrad. Im alltäglichen Fahrbetrieb addieren bzw. subtrahieren sich die genannten Kräfte.

 

 Fazit

Die hier aufgezeigten theoretischen Grundlagen sollen nur die Basis für das Verständnis über die Funktion eines Speichenrads sein. Die exakten physikalischen Abläufe sind noch sehr viel komplexer und die entsprechenden wissenschaftlichen Abhandlungen füllen ganze Bücher. Vielleicht trägt dieser kleine Beitrag jedoch dazu bei, daß der ein oder andere Biker seine Speichenräder mit etwas mehr Verständnis betrachtet. Es reicht eben nicht aus, mit einem mehr oder weniger geeigneten Werkzeug vermeintlich lockere Speichen auf gut Glück nachzuspannen. Mit jeder unfachmännischen Aktion verschlechtert sich die Gesamtfunktion des Laufrades und damit auch das Fahrverhalten und die Fahrsicherheit des Motorrads. Nur ein exakt eingespeichtes und zentriertes Rad erfüllt die Forderungen nach Stabilität und gleichzeitiger Elastizität. Und nur einwandfrei funktionierende Räder bilden die Basis für weitere Verbesserung des Fahrverhaltens wie z.B. Stoßdämpfer, Stabilisatoren, Gabelfedern etc. Viele Fahrer sind überrascht, welche Verbesserungen allein durch neu aufgebaute Speicheräder zu erzielen sind.
Von der guten Optik eines neuen Rades ganz zu schweigen.